Vom Datenberg zum Wettbewerbsvorteil
In jedem Krankenhaus entsteht täglich ein Schatz an Informationen: Blutwerte, Bildaufnahmen, Operationsberichte, Vitalparameter oder Arztbriefe. Meist bleiben diese Daten jedoch in Insellösungen verborgen, erfüllen lediglich Dokumentationspflichten und belasten die ohnehin knappen Ressourcen. Doch betrachtet man sie als das, was sie sind – Real-World-Daten (RWD) aus dem klinischen Alltag – zeigt sich ihr enormes Potenzial.
RWD können Abläufe effizienter machen, Studien beschleunigen und Versorgungsqualität erhöhen. Sie schaffen Transparenz über Patientenpfade, Therapieergebnisse und Qualitätsindikatoren. Gleichzeitig bilden sie die Grundlage für den erfolgreichen Einsatz von Künstlicher Intelligenz: Nur wenn Informationen aus unterschiedlichen Quellen konsolidiert vorliegen, lassen sich Muster erkennen, Prognosen treffen und präzise Handlungsempfehlungen ableiten.
Doch das Potenzial von RWD wird in der Praxis oft durch strukturelle Hürden und ökonomische Zwänge gebremst.
Zwischen Patientenwohl und ökonomischem Druck
Für viele Kliniken ist die Frage drängend: Wie lassen sich steigende Kosten, Personalmangel und der Auftrag zur bestmöglichen Versorgung miteinander vereinbaren? RWD können hier entscheidend helfen. Sie machen sichtbar, wie Behandlungsprozesse tatsächlich ablaufen – etwa wie lange bestimmte Operationen dauern, wann Engpässe entstehen oder welche Diagnosen besonders häufig zu Komplikationen führen. Auf dieser Basis lassen sich OP-Pläne realistischer gestalten, Doppeluntersuchungen vermeiden und Liegezeiten gezielt verkürzen. Das wirkt sich unmittelbar positiv aus – für Patientinnen und Patienten ebenso wie für die wirtschaftliche Stabilität der Einrichtungen. Gleichzeitig ist der Umgang mit Gesundheitsdaten sensibel. Das Spannungsfeld zwischen Heilauftrag und möglicher Monetarisierung verlangt nach klaren Regeln. Entscheidend ist, dass Patienten jederzeit die Kontrolle über ihre Informationen behalten und dass der Nutzen der Datennutzung transparent wird. Nur dann entsteht Akzeptanz für neue Modelle, bei denen Daten auch als wirtschaftliches Gut verstanden werden können.
Damit dieses Potenzial genutzt werden kann, braucht es klare rechtliche Leitplanken – und die entstehen gerade.
Neue Rahmenbedingungen verändern die Spielregeln
Mit der Verordnung über den europäischen Raum für Gesundheitsdaten (EHDS-Verordnung)und dem EU Data Act haben sich die Grundlagen der Datennutzung verändert. Erstmals wird ein verbindlicher rechtlicher und technischer Rahmen geschaffen, der den sicheren, standardisierten Austausch von Gesundheitsdaten möglich macht. Sowohl innerhalb einzelner Länder, als auch über Grenzen hinweg.
Internationale Vorbilder
Ein Blick über die Landesgrenzen zeigt, was möglich ist:
- Finnland hat mit der Behörde Findata ein Modell geschaffen, das Datennutzung klar regelt. Zugänge werden geprüft, Daten anonymisiert und die Zweckbindung überwacht.
- UK Biobank setzt auf freiwillige Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Mehr als 500.000 Menschen stellen dort ihre Daten für die Forschung zur Verfügung, mit nachweisbarem Mehrwert für hunderte Studien.
- Dänemark nutzt ein nationales Patientenregister, um Versorgung gezielt zu steuern und internationale Kooperationen zu fördern.
- USA sehen Versorgungsdaten längst als strategischen Rohstoff, sowohl für Forschung als auch für neue Geschäftsmodelle.
Diese Beispiele belegen: Governance, Transparenz und die aktive Einbindung der Menschen sind entscheidend, damit RWD zu einem Motor für Innovation werden.
Deutschland hat in den vergangenen Jahren wichtige Grundlagen gelegt – doch im internationalen Vergleich bleibt noch viel zu tun. Fragmentierte IT-Landschaften bremsen die Nutzung, und nur wenige Häuser setzen Daten bislang strategisch ein.
Einige Initiativen zeigen jedoch, was möglich ist:
- Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) nutzt Abrechnungs- und Routinedaten, um Qualitätsindikatoren wie Komplikationsraten und Wiederaufnahmen zu berechnen.
- Seit 2016 vernetzt die Medizininformatik-Initiative (MII) Universitätskliniken, Forschungseinrichtungen und IT-Partner, um klinische Routinedaten standortübergreifend nutzbar zu machen. In den entstehenden Datenintegrationszentren werden Informationen nach einheitlichen Standards zusammengeführt, pseudonymisiert und für Forschung oder Versorgung bereitgestellt.
- Während der COVID-19-Pandemie entstand das Netzwerk Universitätsmedizin (NUM), das pandemierelevante Daten in Echtzeit auswertet. Projekte wie CODEX oder NAPKON zeigen, wie koordinierte Datennutzung Forschung beschleunigen und Therapieentscheidungen verbessern kann.
All diese Beispiele verdeutlichen: Deutschland ist auf dem richtigen Weg – gelebter Alltag ist die Nutzung von RWD jedoch noch nicht.
Schritt für Schritt zur datengetriebenen Klinik
Der Weg in eine datenbasierte Zukunft beginnt selten mit großen Sprüngen. Erfolgreich sind Häuser, die mit Pilotprojekten starten: etwa mit smarter OP-Planung, Frühwarnsystemen für Risikopatienten oder der besseren Steuerung von Intensivkapazitäten.
Parallel braucht es eine klare Datenstrategie:
- einheitliche Standards,
- die Konsolidierung von Daten aus verschiedenen Quellen,
- definierte Verantwortlichkeiten im Datenmanagement
- und vor allem die Einbindung der Mitarbeitenden, die täglich mit den Systemen arbeiten.
Mit der richtigen Interoperabilitätsplattform lässt sich die Zeit, bis Daten für Forschungspartner nutzbar sind, von Monaten auf wenige Wochen reduzieren – ein greifbarer Wettbewerbsvorteil.
Warum jetzt gehandelt werden muss
Wer RWD systematisch erschließt, gewinnt dreifach – durch bessere Versorgung, durch stärkere Forschung und durch neue wirtschaftliche Spielräume. Noch ist offen, wie sich rechtliche Rahmenbedingungen im Detail entwickeln. Doch schon jetzt ist klar: Datenkompetenz wird zum entscheidenden Faktor für Wettbewerbsfähigkeit im Gesundheitswesen.
Real-World-Daten sind mehr als ein Nebenprodukt der Dokumentation. Sie sind der Schlüssel zu präziserer Medizin, effizienteren Abläufen und nachhaltigen Geschäftsmodellen. Damit aus der heute oft ungenutzten Goldmine ein echter Werttreiber wird, braucht es Mut, klare Regeln und technologische Partner, die Interoperabilität und Sicherheit garantieren.